Mann mit entstelltem Gesicht sitzt auf einem Platz der portugiesischen Hauptstadt Lissabon und füttert friedlich die Tauben mit Weißbrot. Tauben füttern in Lissabon – Verboten! Wegen Denkmalschutz. Passanten wollen die Tauben verjagen. Der entstellte Mann blickt sie traurig an und sagt: „Ich bin ein halbes Leben nur gejagt und verjagt worden. Ich weiß, wie das ist. Bitte, lassen Sie mich mein Brot mit den Tauben teilen.“ José von Mestre heißt der Tier-Liebhaber. Der halben Welt bekannt als „Der Mann ohne Gesicht“. Die Leser des DEUTSCHLAND-Magazin und Freunde des Hilfsvereins „Aktion Reiskorne.V.“ haben ihm ein neues Leben gegeben. Lesen und sehen Sie, wie es José inzwischen geht.


 

 


 

 Danke, danke – Ich bin ein Mensch – ja, ich bin wirklich ein Mensch

 

Das Foto sieht so simpel aus – Joachim Siegerist (65) öffnet in Lissabon eine Taxitür, und José von Mestre (55) steigt ein. Stadtrundfahrt. Was ist das schon? Es ist viel. Sehr viel. Denn zum ersten Mal in seinem Leben sieht ein in Lissabon geborener Mann seine Stadt ohne Angst. Wird nicht mehr angegafft, von Straßenkindern gejagt und Ladenbesitzern verscheucht. Als das Taxi abfährt, drückt mir José die Hand und sagt: „Jetzt ist sie weg die Angst vor den Menschen. Fortgeblasen vom Wind des Tejo. Ich bin nicht mehr wie eingejagtes Tier. Ich bin ein Mensch.“ Und ab geht die „Post“.


 

 

2009 im Oktober war es. Da entdeckte ich José in Lissabon. Zusammengekauert und verängstigt vor einem Zeitungsladen im Zentrum der Stadt. Gehänselt von Straßenkindern. Verspottet, als „Monster“ beschimpft. Fotografiert von sensations-hungrigen Touristen. Ein riesiger Blut-Tumor hatte sein Gesicht grauenvoll entstellt. Dem Tode geweiht. Das schwammige Geschwür saugte das Blut aus dem Körper, war prall voll und Blut tropfte auf den Boden. Platsch, platsch. Wie Regentropfen. Aber Blut. Ich genierte mich ein wenig, daß auch ich José damals fotografierte. Das erste Bild von ihm entstand. Mit dem Foto bestürmte ich Ärzte in Deutschland und Amerika. Ich alarmierte die portugiesische Regierung, appellierte an das Gewissen des Gesundheitsministers und vor allem – ich half, daß José aus den Fängen der Sekte kam, die ihm seine eigene Mutter eingeredet hatte: „Laß Dich nicht operieren. Im Blut sitzt die Seele des Menschen. Wirst Du operiert, verlierst Du nicht nur Blut, sondern auch Deine Seele. Lieber ein Monster im Leben als ohne Seele nach dem irdischen Leben.“ Was für eine erbärmliche, Gott verspottende und menschen-unwürdige Argumentation. Zeugen Jehovas.

 

Das alles ist vorbei. José wurde erfolgreich operiert. Der Tumor ist verschwunden – und inzwischen ist sicher, daß er nicht mehr nachwächst. In den nächsten Wochen hat José noch eine Zahn- und Kiefernoperation. Auch die haben die Leser des DEUTSCHLAND-Magazin und „Aktion Reiskorn e.V.“ finanziert. Danach kann José normal essen. Ihm wird nicht mehr Speichel aus dem Mund laufen – und er wird festes Essen kauen und schlucken können.

 

Unser Taxi rollt durch Lissabon, die Traumstadt am Fluß Tejo. Von dort aus eroberten die Portugiesen vor Jahrhunderten die halbe Welt, machten sogar das riesige Brasilien zur portugiesischen Kolonie.

 

„Stop“….. ruft José plötzlich. „Stop. Ich möchte einmal mit der alten Straßenbahn fahren. “ Zack – springt er aus dem Taxi, hüpft aufs Trittbrett der alten Straßenbahn, die sich durch die engen Gassen Lissabons schlängelt und die Passagiere in die Wohn- und Schlafzimmer der Häuser sehen läßt. Der Schaffner lacht, unser Taxi fährt hinterher. Drei Stationen. „Dafür mußt Du nicht zahlen“….. sagt der Straßenbahnfahrer, der auch zugleich Kassierer ist.

 

Inzwischen ist auch Margarida (44), Josés Schwester, ins Taxi gestiegen. Unterwegs „aufgesammelt“. An einem besonders schönen Platz von Lissabon – direkt am Hafen – steigen Schwester und Bruder aus, lassen sich fürs DEUTSCHLAND-Magazin fotografieren

 

José hat schlimme Erinnerungen an diesen Platz. Kinder hatten ihn dort vor sechs Jahren mit Steinen beworfen. Ein Stein traf den Blut-Tumor. José verlor das Bewußtsein, wachte auf im Spital. Das auslaufende Blut konnte gestoppt werden. Den Blutschwamm operieren? Das trauten sich die portugiesischen Ärzte nicht zu.

 

Einen ganz persönlichen Wunsch hat José. Das Taxi soll an einem Hotel im Zentrum stoppen. In der oberen Etage des Hotels gibt es eine Terrasse mit Blick über ganz Lissabon. Vor zwei Jahren hatte ich José einmal dorthin eingeladen – zum besseren Kennenlernen und Fotografieren. Ich hatte es vergessen. Für mich war es ein Termin unter vielen. Für José war es mehr. Mir ist es unangenehm, peinlich. Wie konnte ich es nur vergessen?

 

Fast vier Stunden fahren wir nun schon durch Lissabon. Eine Stadt, wie eine einst reiche und nun sehr vornehme, alte Dame. In die Jahre gekommen – der Reichtum ist vergangen, und die seidenen Kleider sind ein wenig abgewetzt. Aber geblieben ist der Charme einer großartigen europäischen Hauptstadt. Puder verdeckt gnädig die Falten und Furchen des Alters.

 

Nach vier Stunden möchte ich ein Café ansteuern. „Bitte,nicht“……….sagt José – „das heben wir uns auf bis zu meiner Kiefern-Operation. Ich möchte, daß Du dann siehst, daß mir der Kaffee aus dem Mund läuft und der halbe Kuchen auf den Tisch fällt. Ich schaffe es“.

 

Fünf Stunden Stadtrundfahrt. José freut sich wie ein kleines Kind – und Margarida geht mit ihrem Bruder zu einem alten Baum am Rand der Straße. Bruder und Schwester umfassen den alten Stamm mit der narbigen Rinde. Während sich die Hände der Geschwister berühren, sagt José: „Ohne meine Schwester hätte ich mir schon vor Jahren das Leben genommen. Ich bin durch die Hölle gegangen. Aber sie hat mir immer wieder gesagt ‚Eines Tages kommt jemand aus einem anderen Land, José – und dann wird Dir geholfen. Halte durch, mein lieber Bruder, halte nur durch’“.

 

Margarida kramt aus ihrer Handtasche ein kleines Foto. Es zeigt José vor der Operation. „Bitte, steck es wieder weg“, sagt José, und eine Träne kullert über seine rechte Wange.