Vater und Mutter starben an Krebs

Geblieben ist ihm nur sein kleiner Hund


 

Von Malina Andronescu


 

Beim Betreten des Hofes  werden wir von einem kleinen Hund begrüßt, der aufgeregt um uns herum hüpft. Wir werden in das „Haus“ hineingebeten – eigentlich eine baufällige Hütte, bestehend aus einer Küche und einem kleinen Nebenzimmer. Der Putz ist abgeblättert, die Löcher im schiefen Lehmboden notdürftig mit ein paar ausgefransten Fußabtretern bedeckt. Die Möbel sind uralt, jedoch ist es offensichtlich, daß sich jemand die Mühe gemacht hat, vor der Ankunft der Gäste die Wohnung sauber zu machen und aufzuräumen. Hier, in diesem „Haus“, wohnt der 17-jährige Oliver Tontsch. Alleine – denn seine beiden Eltern sind an Krebs gestorben. Nun ist er auf die Hilfe von Nachbarn und Mitschülern angewiesen. Seit kurzem hat er aber auch neue Freunde, die „anpacken“ – Förderer des Vereins Aktion Reiskorn aus Deutschland.

„Ich hatte keine glückliche Kindheit“


Die Gemeinde Groß-Schenk (rumänisch: Cincu) liegt im rumänischen Siebenbürgen, zwischen Hermannstadt (Sibiu) und Kronstadt (Brasov), also fast im geografischen Zentrum des Landes. Der Ort war vom 13. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Sitz des Schenker Stuhls und hatte  eine gewisse Bedeutung in der Selbstverwaltung der Siebenbürger Sachsen. Im 19. Jahrhundert – unter der zentralistischen Verwaltung des habsburgischen Reiches – verloren die Stühle an Bedeutung. Heute hat die Gemeinde etwa 1.200 Anwohner: Rumänen, Deutsche, Ungarn, Roma. Bei vielen Familien geht es um Mischehen. 


So auch bei der Familie Tontsch: der Deutsche Walter Tontsch heiratete die junge Doina, die rumänisch-ungarischer Abstammung war. Nach der Heirat gab Doina ihre Stelle als Bedienung in der Dorfgaststätte auf und kümmerte sich von nun an um Haus, Hof und den gemeinsamen Sohn Oliver. Die Familie lebte von dem, was Walter Tontsch als Veterinärtechniker verdiente. „Ich hatte trotzdem keine glückliche Kindheit“ erinnert sich Oliver. „Mein Vater trank viel und verprügelte dann meine Mutter. Mich hat er nur einmal geschlagen, als ich meine Arbeit auf dem Feld nicht ordentlich gemacht hatte. Aber alles, an was ich mich aus dieser Zeit erinnere, sind Streit und Gewalt.“


Walter trinkt nicht nur, er raucht auch zu viel. Das Ergebnis: Kehlkopfkrebs. 2005 stirbt der Vater, Mutter und Sohn bleiben allein. Sie überleben aus der Hinterbliebenenrente von umgerechnet 100,- Euro und von dem, was das kleine Stück Land abwirft, das mit Hilfe einer benachbarten Familie bearbeitet wird. Doch auch die Mutter ist schwer krank: zu den schwerwiegenden Herzrhythmusstörungen, die sie schon zu Lebzeiten ihres Gatten hatte, kommt noch Magenkrebs hinzu. Doina verbringt viele Monate im Krankenhaus. Bei der Konfirmation ihres Sohnes (die Familie gehört der Evangelischen Kirche an) will sie aber unbedingt dabei sein. Sie überzeugt die Ärzte davon, sie aus dem Krankenhaus in 25 Km entfernten Stadt Fogarasch nach Groß-Schenk bringen zu lassen. Der Konfirmationsfeier von Oliver in der Kirche wohnt sie auf einer Bahre bei, umringt vom ärztlichen Personal. Dann geht es zurück ins Krankenhaus. 

Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich aber zusehends. Die letzten vier Monate ihres Lebens verbringt Doina im Hospiz in Hermannstadt. Dann, im Juli 2012, stirbt sie; die Bestattung findet am 20. Juli statt – drei Tage vor dem 17. Geburtstag von Oliver.

„Ich werde das alleine schaffen“


 

Nun ist Oliver alleine geblieben. Da er minderjährig ist, könnte er in ein Kinderheim gehen. Doch das lehnt der Junge entschlossen ab. „Ich werde alleine zurecht kommen“, sagt er trotzig. Doch das Leben in Rumänien ist hart, insbesondere auf dem Dorf. Auch diejenigen, die ein regelmäßiges Einkommen haben, kommen kaum über die Runden. Letztendlich erklärt sich die Nachbarfamilie bereit, die Vormundschaft über Oliver zu übernehmen: sie verwaltet die kleine Hinterbliebenen-rente, zahlt davon die Rechnungen für Strom und Gas und versorgt den Jungen mit drei Mahlzeiten am Tag. Viel mehr können sie aber auch nicht tun, sie sind selbst arm und ziemlich unbeholfen.

Oliver geht jetzt in die 11. Klasse einer Berufsschule  in der Stadt Fogarasch, macht eine Lehre als Kfz-Mechaniker. Er mag leidenschaftlich gerne Motoren und hat die besten Noten in diesem Fach. Im allgemeinen hat er überdurchschnittlich gute Noten. „Ich habe dieses Jahr nur eine einzige Fünf bekommen“, gibt er etwas verschämt zu. Auch mit der Hausarbeit hat er es nicht immer leicht. Da er aber wegen seiner angenehmen Art sehr  beliebt ist, finden sich an jedem Wochenende einige Mitschüler bei ihm ein, um ihn zu unterstützen. Insbesondere die Mädels helfen dem „schmucken“ Jungen gerne bei der Hausarbeit


Leider bleibt Oliver nicht sehr viel Zeit zum Lernen oder Aufräumen: Um sein Einkommen aufzubessern leistet er kleine Hilfsarbeiten bei den Nachbarn: auf dem Feld, beim Dachdecken oder Holzhacken. Neben der Hinterbliebenenrente von umgerechnet 80,- Euro, bekommt Oliver noch 10,- Euro Kindergeld im Monat. Aber nur der Bus der die Kinder täglich zum Gymnasium nach Fogarasch fährt, kostet 45,- Euro im Monat. Eigentlich hatten die Lokalbehörden den Schulkindern kostenlos einen Bus zur Verfügung gestellt, der Weg damit zur Schule war jedoch ein Horrortrip: „Der Bus war eine Rosthaube. Durch das kaputte Dach regnete und schneite es auf die Köpfe der Kinder, und die Löcher im Boden waren so groß, daß man den Asphalt sehen konnte. Außerdem blieb er ganz oft auf der halben Strecke liegen, so daß wir auf einen anderen Bus warten mußten und uns in die Schule verspätet haben“, erinnert sich eine von Olivers Mitschülerinnen. Deswegen sind die Schüler auf den Bus einer Privatfirma umgestiegen, was aber sehr teuer ist. Zwar soll der Bürgermeister versprochen haben, daß er den Schulbus für Oliver aus der Gemeindekasse zahlen will, ob es aber tatsächlich dazu kommt, bleibt abzuwarten


Und der kalte rumänische Winter steht vor der Tür. Die Hütte, in der Oliver wohnt, ist baufällig; der  Kühlschrank ist kaputt und der Ofen muss dringend repariert werden. (Ein Glück, daß die alte Waschmaschine noch halbwegs funktioniert!)... Außerdem muß Feuerholz her – und ein Pferdekarren mit Holz kostet 35,- Euro – und für den langen Winter in Rumänien braucht man mindestens 3-4 Karren. 

Hilfe von Aktion Reiskorn


Als ihn der Hilferuf aus Groß-Schenk erreicht, zögert Joachim Siegerist nicht lange: Eine Hilfsaktion für Oliver Tontsch wird über den Verein Aktion Reiskorn auf die Beine gestellt. Wir fahren nach Groß-Schenk mit einem Koffer voller Winterkleidung: einer warmen Jacke, Pullis, Hemden, Jeans, Unterwäsche. Auch Schulsachen sind dabei. Und ganz, ganz wichtig für den harten Winter in Rumänien: ein Paar gefütterte, rutschfeste Winterschuhe. (Als wir ihn Ende November treffen, trägt Oliver ein paar alte Turnschuhe, ohne Schnürsenkel). Außerdem wurde ein Hilfsfonds eingerichtet der für die Dauer der nächsten 12 Monate Olivers Lebensunterhalt sichern soll und aus dem auch die notwendigen Reparaturen im Haus bezahlt werden. 


Oliver Tontsch ist zwar kein Kind mehr. Er befindet sich aber an einem Scheideweg: Er ist noch in einem schwierigen Alter und leidet sehr unter dem Verlust seiner Mutter. Es besteht die Gefahr, daß er unter den Einfluß der falschen Leute gerät und einen schlechten Weg einschlägt. Oder er kann in zwei Jahren seine Lehre als Kfz-Mechaniker abschließen und anschließend ein anständiger Mensch werden. Die Voraussetzungen dafür hat er. Die Förderer des Vereins Aktion Reiskorn können ihm dabei helfen, den richtigen Weg zu wählen. Für die Zeit nach seinem Schulabschluß hat Oliver schon konkrete Vorstellungen: „Ich werde nach Deutschland gehen und dort einige Jahre arbeiten. Dann komme ich zurück, eröffne mit dem gesparten Geld eine Kfz-Werkstatt und gründe eine Familie“. Die Familie, die ihm jetzt so sehr fehlt...